„Besser sterben, als in Afghanistan zu leben!“
Wie Zalmai und seine Familie es nach Deutschland geschafft haben
02:02 min
Flucht aus Kabul
Familienvater Zalmai und seine Flucht aus Afghanistan
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Die Flucht von Zalmai A., dem ehemaligen Übersetzer der Bundeswehr, haben wir gebannt mitverfolgt: In Sprachnachrichten und Videos, die unter die Haut gehen, hat er RTL seine Flucht live geschildert. Noch bevor die Taliban die Hauptstadt Kabul unter ihre Macht gebracht hatten, versteckte sich Zalmai in einem Safe House für afghanische Ortskräfte. Am Freitagnachmittag treffen wir Zalmai in Hamburg: Er erzählt von seinem unglaublichen Weg: Aus den überfüllten Straßen von Kabul, über den von schwer bewaffneten Taliban gesicherten Flughafen, hinein in eine Maschine der deutschen Bundeswehr, bis genau zu diesem Zeitpunkt heute: bei einem gemütlichen Spaziergang mit seiner Frau durch die Hamburger Fußgängerzone.
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Das Leben in Deutschland und Afghanistan - ein Unterschied wie Himmel und Erde

Im Nieselwetter von Hamburg laufen Zalmai und seine Ehefrau Nuria eingehakt durch die Fußgängerzone. Sie schauen sich die bunten Kleider der Schaufensterpuppen an. 399 Euro soll eines davon kosten. „Also damit kann man in Afghanistan vier Monate leben“, sagt Zalmai. Die Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und dem Heimatland Afghanistan seien wie Himmel und Erde. In ähnlichem Kontrast steht dieser gemütliche Spaziergang auch zur Situation, in der sich Zalmai und seine Familie noch Anfang dieser Woche befunden haben.
Als sich die Nachricht, die Taliban hätten Kabul übernommen, verbreitet, befindet sich Zalmai mit seiner Familie in einer Behörde, um neue Pässe zu beantragen. Zwei- bis dreitausend Menschen rennen auf die Straße hinaus. „Die ganze Stadt war in Panik geraten“, schildert Zalmai die Situation. Drei Stunden braucht die Familie zu Fuß nach Hause, da kein Taxi sie mitnehmen möchte. Die Straßen sind überfüllt. Am nächsten Tag sind die Taliban - „lange Haare, afghanische Klamotten, mit Maschinengewehr“ – überall. Auch für Zalmai, der viele Jahre lang als Übersetzer für die deutsche Bundeswehr gearbeitet hat, ist es die erste richtige Begegnung mit den Taliban.
Zalmai ist auf sich allein gestellt
In einem Safe House, das extra für Bundeswehr-Helfer eingerichtet wurde, findet Zalmai Schutz und übernimmt schnell die Verantwortung für die Menschen vor Ort. Kurze Zeit später werden die Safe Houses aufgelöst – die Taliban sind auf der Suche nach ehemaligen Unterstützern ausländischer Behörden. Ortskräfte wie Zalmai müssen sich nun alleine durchschlagen.
Aus dem Land hinaus führt eigentlich nur ein Weg: über den Flughafen von Kabul und die Hoffnung von dort aus mit einem deutschen Bundeswehrflieger aus dem Land gebracht zu werden. Doch allein der Weg zum Flughafen ist schon gefährlich. Er führt über von Taliban kontrollierte Checkpoints. Doch für Zalmai ist dies die einzige Chance: In einer Sprachnachricht an RTL am Dienstagmorgen berichtet er von seinen Plänen, den Flughafen mit seiner Familie zu erreichen.
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Chaos am Flughafen Kabul

Vor den beiden Eingängen des Flughafens stehen dicht gedrängt ungefähr 4.000 Menschen, die auf das Flughafengelände wollen. Die Taliban geben immer wieder Warnschüsse ab. Heiße Patronenhülsen fallen auf den Boden und treffen die wartenden Menschen. In den Flughafen kommt niemand hinein: egal, welchen Pass man besitzt. Heute ist Zalmai überrascht von sich selbst: „Das ist einfach unmöglich in den Flughafen reinzukommen. Wie ich das geschafft habe, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Das ist furchtbar.“
Doch Zalmai hat es geschafft. Er ist drinnen. Das erste Aufeinandertreffen mit einem deutschen Bundeswehrsoldaten – unbeschreiblich: „Ich kann diesen Moment überhaupt nicht beschreiben. Ich hatte das Gefühl, dass ich schon in Deutschland bin.“ Und nur kurze Zeit später ist er auch tatsächlich dort. Am Mittag steigen Zalmai und seine Familie in eine A400M-Maschine der deutschen Bundeswehr. Insgesamt sind 125 Menschen an Bord. Es geht nach Taschkent in Usbekistan, von dort mit einem Flieger der Lufthansa nach Deutschland.
"Besser sterben, als in Afghanistan zu leben"

Mittlerweile sind Zalmai und seine Familie in einer Unterkunft in Hamburg untergebracht. Er ist überglücklich endlich angekommen zu sein, denkt jedoch noch an die Mitglieder seines Teams in den Safe Houses zurück. Schließlich war er für sie zuständig. Jetzt ist er draußen und sie immer noch in Gefahr. Viele haben kein Geld für Essen oder eine Wohnung, geschweige denn Pässe oder ein Visum, um aus dem Land zu kommen. Lediglich die Verträge, die bestätigen, dass sie einmal für die deutsche Bundeswehr im Einsatz waren, tragen sie bei sich. Und genau das könnte ihnen zum Verhängnis werden. Denn die Taliban sind auf der Suche nach Ortskräften, die ausländische Organisationen, wie die deutsche Bundeswehr, unterstützt haben.
Zalmais Fazit von 20 Jahren Afghanistan-Einsatz? Es sei eine reine Katastrophe. Ihm fällt es schwer, sein Land in dieser Situation sehen zu müssen. Sie „waren auf die Hilfe von internationalen Streitkräften angewiesen, als die weg waren, haben wir sowas erlebt“. Schuld daran sucht Zalmai hauptsächlich bei den US-Amerikanern. Das Land von den Taliban zurückzuerobern würde lange dauern: Was Amerikaner und andere internationale Streitkräfte in 20 Jahren nicht geschafft hätten, würde man jetzt alleine erst recht nicht schaffen. „Das ist eine richtige Katastrophe! Besser sterben, als in Afghanistan zu leben.“
Neuanfang in Deutschland

Doch das muss Zalmai nun nicht mehr. Der 37-Jährige ist mit seiner Familie in Deutschland angekommen. Wie es jetzt weiter geht? Seine Frau möchte gerne ein Restaurant aufmachen, er selbst möchte Künstler werden, bezeichnet sich selbst als den bekanntesten Zeichner von Afghanistan.
„Meine ältere Tochter will Ärztin werden“, erklärt er. Seine Kinder sollen die Chance haben sich ihre Träume erfüllen zu können. Bei einem Neuanfang in Deutschland auf lange Sicht, bei dem es für Zalmai zum ersten Mal seit langem nicht mehr nur um das reine Überleben geht. (khe)